VON LEIPZIG NACH PARIS mit Katharina Zauner
Mit Werken von Arno Landmann, Johann Sebastian Bach und Louis Vierne begeisterte die Studentin an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien das zahlreich erschienene ORGEL.SOMMER-Publikum im Mariendom.
Variationsreich!
Arno Landmann wurde 1887 im thüringischen Blanenhain nahe Weimar geboren. An der Großherzoglichen Musikschule in Weimar studierte er von 1903/04 bis 1908 neben seinem Hauptfach Orgel bei Wolf Degner auch Cello, Fagott und Klavier. Zum Leidwesen Landmanns negierte Degner im Unterricht die Orgelwerke Max Regers, die intensive Beschäftigung mit Regers Schaffen fällt demnach in die Zeit seiner ersten Anstellung als Organist an der Stadtkirche Weimar (ab 1908). 1909 berief man Landmann zum Lehrer für Orgel an die Großherzogliche Musikschule in Weimar. Arno Landmann studierte sodann ab April 1910 ein Jahr lang am Leipziger Konservatorium Orgel bei Karl Straube, der ihn als „unübertrefflichen Orgelvirtuosen“ bezeichnete, und Komposition bei Max Reger. Im Mai 1911 erhielt er eine Stelle als Kirchenmusiker an der neu errichteten Christuskirche in Mannheim, wo er sich an der Steinmeyer-Orgel bis zur Beendigung seines Dienstes 1942/43 für Regers Orgelwerk einsetzte und in zig Konzerten zur Aufführung brachte. Daneben konzertierte Landmann in vielen deutschen Städten, in denen er eine große Fülle an Orgelliteratur darbot. Landmann starb 1966 in einem Altersheim in Schriesheim nahe Mannheim.
Das kompositorische Schaffen des Spätromantikers umfasst hauptsächlich Orgelwerke – darunter auch das von Katharina Zauner in ihrer MUSIK AM MITTAG interpretierte Werk Variationen über ein Thema von Georg Friedrich Händel, op. 29. Das 1935 entstandene und 1979 im Möseler Verlag herausgegebene klanggewaltige Werk, das in seiner Stilistik zwischen Romantik und Moderne changiert und im Verlauf sämtliche Veränderungen vom barock inspirierten Teil bis zum hymnischen Ausbruch erlebt, nimmt ein Thema aus Georg Friedrich Händels Sarabande aus der Cembalosuite Nr. 4, d-Moll, HWV 437, als Grundlage.
Bachisch!
In seinem 1739 beim Nürnberger Notenstecher Balthasar Schmidt erschienenen Dritten Theil der Clavier Übung präsentiert Bach den musikalischen Reichtum seines kompositionstechnischen Repertoires: Die hinsichtlich Stil, Form und Satztechnik vielfältige Sammlung mit teilweise hohen Anforderungen an die Spieltechnik ist dabei nicht in erster Linie für den liturgischen Gebrauch bestimmt, sondern als repräsentatives Kunstwerk zur Darstellung des hohen kompositorischen und spieltechnischen Niveaus ihres Schöpfers.
Neun Choralbearbeitungen auf Gesänge der lutherischen Messe (Kyrie und Gloria, BWV 669–677), paarweise auftretende Choralbearbeitungen zu den sechs Liedern von Luthers Kleinem Katechismus (Die Zehn Gebote, Der Glaube, Das Vater Unser, Das Sakrament der heiligen Taufe, Vom Amt der Schlüssel und der Beichte, Das Sakrament des Altars oder das Heilige Abendmahl, BWV 678–689) sowie die vier auf keinem Cantus firmus basierenden Duette (BWV 802–805) werden von Präludium und Fuge Es-Dur, BWV 552, umrahmt. Allen großen Choralbearbeitungen stellt Bach darin einen knappen, manualiter zu spielenden Alternativsatz zur Seite. Die nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengestellten Choralbearbeitungen waren wohl Bachs Beitrag zum Leipziger Reformationsjubiläum 1739. (Der protestantische Glauben wurde zu Pfingsten 1539 als Religion im Herzogtum Sachsen eingeführt – beim begleitenden Festakt in Leipzig predigte Martin Luther in der Kapelle der Pleißenburg und hielt eine Festrede in der Thomaskirche.)
Johann Sebastian Bach (1685–1750): Dies sind die heilgen zehen Gebot, BWV 678 | Rudigierorgel: Katharina Zauner
Luther hatte das Katechismuslied, das unter Nutzung der Melodie einer volkstümlichen Leise aus dem 12. Jahrhundert den Dekalog paraphrasiert, verfasst, um die grundlegenden Glaubensinhalte in leicht zu merkender Form zum Einprägen und Aneignen anzubieten. Bach bearbeitete das in der lutherischen Katechese des 18. Jahrhunderts offenbar sehr präsente Werk mehrfach – zum einen in den Choralbearbeitungen BWV 635, 678 und 679 sowie im Eingangschor der Kantate Du sollt Gott, deinen Herren, lieben, BWV 77.
Dies sind die heilgen zehen Gebot, BWV 678, entspricht dabei der für die Clavier Übung typischen kontrapunktischen Verarbeitung, wobei hier der Cantus firmus als Kanon im Tenor erklingt. Der Kanon steht bei Bach musikalisch häufig für „Gebot, Gesetz“. Die kanonische Behandlung der fünf Choralzeilen verdoppelt diese, sodass diese schließlich die zehn Gebote charakterisieren. Immer wieder nutzt Bach dabei auch die rhetorische Figur eines chromatischen Seufzermotivs.
Final!
Louis Vierne muss man wohl nicht mehr vorstellen. Zwischen 1895 und 1930 komponierte der 1870 mit einer schweren Sehbehinderung geborene Franzose sechs Orgelsymphonien, in denen er die faszinierende musikalische Gattung der Orgelsymphonie zu ihrem Höhepunkt führte. Den grandiosen César Franck 1880 in Sainte-Clotilde als Organist gehört zu haben, war für Vierne laut seinen Memoiren (Mes souvenirs, 1934–1937) eine Offenbarung: „Je fus bouleversé et pris d’une sorte d’extase. [...] C'est beau parce que c'est beau; je ne sais pas pourquoi, mais c'est si beau que je voudrais en faire autant et mourir tout de suite après ...“ („Ich war überwältigt und geriet in eine Art Ekstase. [...] Es ist schön, weil es schön ist; ich weiß nicht, warum, aber es ist so schön, dass ich das Gleiche tun und gleich danach sterben möchte ...“). So verwundert es nicht, dass er später bei Franck (ab 1889) und Widor (ab 1890) privat und am Conservatoire de Paris studierte.
Viernes Première Symphonie, op. 14, entstand nach eigenen Angaben 1895, möglicherweise aber auch erst 1898. Dazu inspiriert hatte ihn wohl die 1862 eingeweihte Cavaillé-Coll-Orgel von Saint-Sulpice. Erstmals veröffentlicht wurde das Werk 1899 beim Verlag Pérégally et Parvy fils in Paris. Widmungsträger ist Viernes Freund und Mentor Alexandre Guilmant („À Alexandre Guilmant“), der selbst im Bereich der symphonischen Orgelmusik tätig war, seine größeren acht Werke allerdings nicht als Symphonien, sondern als Sonaten bezeichnete. Insbesondere Viernes erste Symphonie kann durch die – im Vergleich zu den späteren Symphonien Viernes, die fünf Sätze umfassen – sechssätzige Anlage eher als Suite bezeichnet werden. Möglicherweise nahm Vierne damit Bezug auf Widors zweite Symphonie, op. 13/2.
Guilmant brachte Viernes erste Symphonie einem kleinen Kreis auf der Cavaillé-Coll-Orgel des Pariser Palais du Trocadéro zu Gehör, spielte sie 1904 außerdem auch auf seiner letzten Amerika-Tournee. Daneben führte er sie auch bei Konzerten für Freund:innen und Student:innen in Meudon und Paris auf, in denen seine Frau Louise Rosalie für die Bewirtung der Gäste sorgte. Teile der ersten Symphonie erklangen auch bei Viernes eigener Hochzeit in Saint-Sulpice 1899 – interpretiert von Charles-Marie Widor.
Viernes kraftvolles Final ist in Sonatenhauptsatzform komponiert. Es zählt neben der Toccata aus Widors fünfter Symphonie, op. 42/1, zu den erfolgreichsten Beispielen dieser mit durchaus einfachen, aber äußerst wirkungsvollen und dabei der Improvisation nahestehenden Schreibweise. Viernes berühmtes Stück ist dabei durch eine donnernde Pedalmelodie, deren erste Noten identisch mit jenen der Marseillaise sind, gekennzeichnet, die von gebrochenen Akkordfiguren an den Manualen unterlegt wird. In Bezug auf den musikalischen Gehalt seiner ersten Symphonie war Vierne später äußerst kritisch, so bezeichnete er das Final retrospektiv gar als „pompier“, also banal, wie einem Bericht von Bernard Gavoty zu entnehmen ist: „As for the Final, it is my Marseillaise – by that mean I find it horribly pompier. It’s a lack of taste, but a lack of taste that pleases the public … so I always play it!“
Louis Viernes Komposition – aus heutiger Sicht keineswegs banal oder ein Mangel an Geschmack, sondern ein fulminanter Schlusspunkt beim Finale von Katharina Zauners kontrastreicher und faszinierender MUSIK AM MITTAG mit einer Reise VON LEIPZIG NACH PARIS! In dieser Einschätzung irrte sich Vierne aber nicht: Es gefiel dem ORGEL.SOMMER-Publikum ganz außerordentlich!
Stefanie Petelin
Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin