„Jeder Form des Antisemitismus entschieden entgegentreten“

Da Bischof Scheuer derzeit an der Herbstvollversammlung der österreichischen Bischöfe in Wien teilnimmt, hat ihn Generalvikar Severin Lederhilger beim Gedenken in der Synagoge in Linz am Abend des 9. November 2021 vertreten und dort das Statement des Bischofs vorgetragen. Hier der Text im Wortlaut.
In der Nacht des 9. November 1938 ist das Angesicht Österreichs und auch der Stadt Linz grundlegend verändert worden. [1] War die jüdische Gemeinde davor ein Teil der österreichischen Gesellschaft und Kultur gewesen, so hat mit dieser Nacht die Wandlung hin zu einem weitgehend synagogen- und judenleeren Staat begonnen. Die Shoah hat tiefe Risse hinterlassen. Bis heute fehlen die Menschen, die Synagogen und andere jüdische Einrichtungen. [2]
Im Jahr 2021 gedenken wir in besonderer Weise der Wiener Gesera – der planmäßigen Vernichtung jüdischer Gemeinden im Herzogtum Österreich in den Jahren 1420/1421. Diese hat auch einen starken Oberösterreich-Bezug. Herzog Albrecht V. ordnete die planmäßige Verschleppung und gewaltsame Taufe Hunderter jüdischer Kinder an. [3] Dies hatte eine jüdische Intervention beim Papst zur Folge, damit dieser bei Herzog Albrecht und Kaiser Sigismund die Einstellung der Zwangstaufen einmahnte. Papst Martin V. reagierte am 1. Januar 1421 mit der Ausstellung einer Urkunde, die auf die Beschwerde venetischer und österreichischer Juden Bezug nahm und die Taufe jüdischer Kinder gegen deren und gegen derer Eltern Willen verbot. Herzog Albrecht V. hat daraufhin sein Vorgehen gegen die Juden mit einer angeblichen Hostienschändung in Enns gerechtfertigt. Diese wurde dem jüdischen Geschäftsmann Isserlein bar Schalom, der in Linz und Wien ansässig war, unterstellt. Die noch in Wien verbliebenen überlebenden Juden, nach dem Bericht der „Gesera“ 210 Personen, wurden am 12. März 1421 – vor 600 Jahren – auf der Gänseweide in Erdberg verbrannt. … Die Mesnerin von Enns, die den Juden angeblich die Hostien verkauft hatte, endete einen Monat später ebenfalls auf dem Scheiterhaufen.
Dieses historische Ereignis ist ein grausames Beispiel für jahrhundertelang praktizierten Antisemitismus in unserem Land. Die katholische Kirche hat erst nach der Shoah wirklich erkannt, dass die christliche Tradition auch antisemitische Strömungen begünstigte, die über Jahrhunderte Tod und Vertreibung von Jüdinnen und Juden zur Folge hatten. Das Konzilsdokument „Nostra Aetate“ gilt als Wendepunkt im Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. Dort heißt es: „Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche … alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben.“ (NA 4) Diese Schuld der Kirche, diese Schuld von Christinnen und Christen muss uns jetzt umso sensibler machen und tatkräftiger agieren lassen, wenn es um neue Formen von Antisemitismus, wenn es um Ausgrenzung und Verachtung von Menschen und ganzen Volksgruppen geht und die Würde des Menschen angetastet wird.
Wir Christen bekennen mit dem jüdischen Volk den Gott Israels. Wir erkennen heute beschämt, dass mit der Zerstörung der Synagogen der Name des Ewigen geschändet wurde, ohne dass viele unserer Vorfahren im Glauben dies gespürt hätten. Politische Naivität, Angst, eine fehlgeleitete Theologie, die über Jahrhunderte hinweg die Verachtung des jüdischen Volkes gelehrt hatte, und mangelnde Liebe haben viele Christen damals veranlasst, gegenüber dem Unrecht und der Gewalt zu schweigen, die jüdischen Menschen in unserem Land angetan wurden. In unserem Land hat es damals ‚zu wenig Gerechte’ gegeben. Die Katholische Kirche in Oberösterreich stellte keine Ausnahme im Kontext dieser schmerzhaften Verstrickung dar.
Es ist wichtig, die Sprache, die hasserfüllten Worte nicht zu unterschätzen, die in unseren Gesellschaften verbreitet werden. Durch eine Kultur der Begegnung, der Kenntnis der Gegenwart und der Erinnerung an die Vergangenheit muss der Einsatz verstärkt werden, um allem Rassismus und Antisemitismus entgegenzutreten. Das Gedenken an das Pogrom vor 83 Jahren ist Anlass, heute deutlich zu machen: Die Kirchen sind dankbar für das Gotteslob des jüdischen Volkes. Dieses Gotteslob führt uns zur Quelle unseres eigenen Glaubens. Die Kirchen verstehen und lehren ihren Glauben so, dass dies nicht in Abwertung der jüdischen Religion geschieht, sondern in stetiger Erinnerung an Gottes Treue zu seinem erwählten Volk. Wir sind wachsam gegenüber jeglicher Form von Politik, die auf Abwertung und Ausgrenzung von Minderheiten setzt. Insbesondere sind wir hellhörig im Hinblick auf jede Form des Antisemitismus und werden ihr entschieden entgegentreten. [4]
Bischof Manfred Scheuer
[1] Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz 1849-1943. Bd. I: Institutionen, Linz 2008, 25-27.
[2] Die Shoah hat tiefe Risse hinterlassen. Gemeinsame Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) und der Israelitischen Kultusgemeinde Wien anlässlich des 80. Jahrestages der Novemberpogrome (9. November), Wien, 24.10.2018, in: www.oekumene.at
[3] Vgl. dazu Brugger/ Keil/ Lichtblau/ Lind/ Staudinger, Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, 179.
[4] 75 Jahre November Pogrome. Erklärung des Vorstands des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ), 7. November 2013.
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1420 / 1421 Hostienschändungslegende Enns / Garsten
Wiener Gesera
In Enns wird 1350 eine Judenstraße erwähnt, in der jedoch nicht alle Häuser der jüdischen Bewohner der Stadt lagen. Die Ennser Judenschaft war klein und umfaßte nie mehr als einige wenige Familien; neben Geldgeschäften trieben sie auch Handel. Der bedeutendste Geschäftsmann war Isserlein bar Schalom, der zeitweilig auch in Linz ansässig war und in Wien ein Haus besaß. Isserlein und seine Frau sollen jene Ennser Juden gewesen sein, denen Herzog Albrecht V. eine Hostienschändung unterstellte, um so die Verfolgungen der Wiener Gesera zu rechtfertigen.
Brugger / Keil / Lichtblau / Lind / Staudinger: Geschichte der Juden in Österreich, Ueberreuter Wien 2006, 179
Trotz dieses Hintergrundes ist die tatsächliche Motivation Albrechts V. für das Vorgehen gegen die österreichischen Juden 1420/ 21 ungeklärt. Der altbewährte Vorwurf der Hostienschändung wurde erst nachträglich zur Rechtfertigung des Herzogs erhoben: Jahre zuvor hätten Juden in Enns einer Mesnerin an der Ennser Pfarrkirche Hostien abgekauft und dies an Juden inner- und außerhalb des Landes verteilt; daher habe der Herzog die Schmach, die die Juden Gott und dem christlichen Glauben angetan hatten, durch die Verbrennung der gesamten Judenschaft im Land gesühnt.
Brugger / Keil / Lichtblau / Lind / Staudinger: Geschichte der Juden in Österreich, Ueberreuter Wien 2006, 222
Die danach erfolgte Verschleppung und gewaltsame Taufe Hunderter jüdischer Kinder hatte eine jüdische Intervention beim Papst zur Folge, damit dieser bei Herzog Albrecht und Kaiser Sigismund die Einstellung der Zwangstaufen einmahnte. Papst Martin V. regierte am 1. Januar 1421 mit der Ausstellung einer Urkunde, die auf die Beschwerde venetischer und österreichischer Juden Bezug nahm und die Taufe jüdischer Kinder gegen deren und gegen derer Eltern Willen verbot. Die päpstliche Kritik dürfte einer jener Gründe dafür gewesen sein, die Herzog Albrecht V. dazu brachten, sein Vorgehen gegen die Juden mit einer angeblichen Hostienschändung zu rechtfertigen.
Die noch in Wien verbliebenden überlebenden Juden, nach dem Bericht der „Gesera“ 210 Personen, wurden am 12. März 1421 auf der Gänseweide in Erdberg verbrannt. … Die Mesnerin von Enns, die den Juden angeblich die Hostien verkauft hatte, endete einen Monat später ebenfalls auf dem Scheiterhaufen.
Brugger / Keil / Lichtblau / Lind / Staudinger: Geschichte der Juden in Österreich, Ueberreuter Wien 2006, 224
Nun berichtet Preuenhuber von einer Hostienschändung, die sich in Garsten zugetragen haben soll und die die Ausweisung der Juden aus Garsten und Steyr zur Folge hatte. … Das erwähnte Reliquiar ist heute noch in der Stiftskirche in Garsten erhalten. Es stammt aus dem Jahr 1639. … F.X. Pritz meint, daß es sich bei der Garstener Hostienschändung um eine Verwechslung mit der Ennser Begebenheit handle. Nach den Annalen von Garsten und Hoheneck soll sich die Begebenheit schon um das Jahr 1400 zugetragen haben.
Neuhauser-Pfeiffer / Ramsmaier: Vergesse Spuren, Die Geschichte der Juden in Steyr, Sandkorn Linz, 1993, 20 f
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