ORGEL.SOMMER: Lilo Kunkels SOUNDS OF SUMMER
Mit ihren außergewöhnlichen Bearbeitungen von Swing- und Jazz-Nummern für Orgel weckte Jazzorganistin Lilo Kunkel bei ihren SOUNDS OF SUMMER Urlaubserinnerungen und entführte zu Sonne, Strand, Meer und an Traumorte wie Paris, Rio oder Georgia.
Irving Berlin – in „Blue Skies“ blickend
Eröffnet wurde der außergewöhnliche Orgelabend mit dem Jazzstandard „Blue Skies“ aus der Feder des amerikanischen Musikverlegers und Komponisten Irving Berlin. Nachdem der Vaudeville-Star Belle Baker mit der für die Florenz-Ziegfeld-Produktion „Betsy“ geplanten Solonummer „This Funny World“ nicht zufrieden war, kontaktierte Baker den Erfolgskomponisten Irving Berlin, der daraufhin am 16. Dezember 1926 spontan abends zuhause bei der Sängerin den Song verfasste. Die Autoren von „Betsy“ waren erbost – doch bereits zwölf Tage nach der Komposition wurde „Blue Skies“ bei der Premiere von „Betsy“ im New Yorker New Amsterdam Theater zum Publikumshit, unglaubliche 24 Zugaben wurden an diesem Abend vom Publikum verlangt. Der Song spielt dabei mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „blue“ – den traurigen Tagen („blue days“) steht der blaue Himmel („blue sky“) gegenüber, auch musikalisch. Lilo Kunkel verzauberte mit ihren jazzigen Orgelklängen von der ersten Minute an das aufmerksame Publikum.
Burton Lane – klare Sicht mit „On a Clear Day“
Tage mit klarer Sicht rückte auch Kunkels Interpretation von Burton Lanes Song „On a Clear Day“ in den Fokus: Mit Texten von Alan Jay Lerner erschuf der Komponist und Liedtexter des „Great American Songbook“ 1965 das Musical „On a Clear Day You Can See Forever“, für das er den Grammy Award für das beste Broadway-Album erhielt. Heitere Töne entlockte Kunkel bei ihrer Bearbeitung des Werks auch der Rudigierorgel und versetzte das Publikum damit in Staunen.
Lionel Hampton – verzaubert von der „Midnight Sun“
Das mit tiefen Pedaltönen beginnende „Midnight Sun“ wurde bereits 1947 von Lionel Hampton und Sonny Burke, ursprünglich als Instrumentalstück, komponiert – mit dem unterlegten Text von Johnny Mercer aus dem Jahr 1954 gilt es heute als Jazzstandard. Der Texter soll mit dem Auto von Palm Springs nach Hollywood unterwegs gewesen sein, als er die Komposition im Radio hörte und noch während des Fahrens Worte zur Musik fand.
Aus Böhmen kommt die Musik – swingende „Sonne der Gerechtigkeit“
Sonnig blieb Lilo Kunkel an der Rudigierorgel auch beim anschließenden deutschen Kirchenlied „Sonne der Gerechtigkeit“ – das ursprünglich weltliche Lied „Der reich Mann war geritten aus“ war in Böhmen bereits seit dem 15. Jahrhundert bekannt und wurde in einem Liederbuch der Böhmischen Brüder 1561 erstmals für ein Kirchenlied verwendet und inspirierte bis heute zu zahlreichen musikalischen Bearbeitungen – so auch die Würzburgerin Lilo Kunkel, die auf ein Studium der Kirchenmusik und Musiktheorie bei Zsolt Gárdonyi zurückblicken kann.
Bobby Hebb – „Sunny“ für den lieben Gott
Mit „Sunny“ erklang von der Empore der Rudigierorgel herab ein von Bobby Hebb geschriebener und gesungener Soulsong aus dem Jahr 1963, der – auch dank zahlreicher Coverversionen – inzwischen Evergreenstatus hat. „Sunny“ entstand in Erinnerung an Hebbs Bruder Hal, der am 23. November 1963 einen Tag nach der Ermordung John F. Kennedys bei einer Messerstecherei in Nashville ums Leben kam. In „Sunny“ beschreibt Hebb diese dunklen, verregneten Tage, die sich durch das schmerzlindernde Lächeln einer Frau wieder in helle Tage verwandeln. Hebb selbst betonte jedoch, dass der Song keiner Frau, sondern Gott gewidmet sei, was auch ein Interview unterstützt, in dem Hebb als sehr spiritueller Mensch beschrieben wird. Und er selbst sagte: „'Sunny' is your disposition. You either have a sunny disposition or you have a lousy disposition.“[1] Binnen 45 Minuten soll der Song geschrieben worden sein – Text und Musik seien Hebb gleichzeitig zugeflogen. Die „sonnige“ Stimmung mit ihrem inneren Frieden setzte Kunkel meisterhaft in Orgeltöne um – eingangs fühlten sich Zuhörende durch die einleitenden Tangorhythmen fast zum Tanz eingeladen.
Kenny Baron – auf Tour mit „Voyage“
Bei Kunkels nächster Jazznummer – „Voyage“ – handelte es sich um eine Komposition der Pianistenlegende Kenny Baron, die 1986 erstmals auf dessen Platte „What If?“ erklang – heute ist sie Standard der modernen Jazzcrowd. Barron selbst hatte in einem Interview gesagt: „Music is a journey, but you never want to arrive.“ (Übersetzung: „Musik ist eine Reise, aber Du möchtest nie ankommen.“)[2] Kunkels Orgelbearbeitung im jazzigen Stil bestach dabei durch spannende Registrierungen und pfiffige Einfälle. Und man spürte in Kunkels Umsetzung, was Kenny Barron mit dem Zitat eines befreundeten Pianisten, Hasaan Ibn Ali, meinte: „Musicians should always be humble because music comes through you, not from you.“ (Übersetzung: „Musiker sollten immer demütig sein, weil Musik durch dich kommt, nicht von dir.“)[3]
Hoagy Carmichel – sinnierend über Georgia in „Georgia on My Mind“
Zu einem Jazzstandard avancierte auch Hoagy Carmichaels „Georgia on My Mind“, das im Frühjahr 1930 entstand und in zahlreichen Coverversionen verschiedener Musikstile zum Hit wurde. Die Idee zum Song ging von Saxophonist Frank Trumbauer aus, der Carmichael ermutigte, einen Titel über Georgia zu schreiben. Uneinig ist sich die Musikwelt jedoch bis heute, ob mit Georgia der US-Bundesstaat oder Carmichaels gleichnamige Schwester gemeint war. Wer auch immer damit gemeint war – Lilo Kunkels Interpretation beeindruckte mit gewaltigen und gewichtigen Jazzklängen.
Antônio Carlos Jobim – der Verehrer des „Girl from Ipanema“
„The Girl from Ipanema“ ist der bekanntere englische Titel eines 1962 von Antônio Carlos Jobim komponierten und mit einem Text von Vinícius de Moraes versehenen brasilianischen Musikstücks, das zum Welterfolg wurde und die stilistischen Eigenheiten des Bossa-Nova-Gesangs international bekannt machte. Der melancholische Betrachter im Lied reflektiert über eine vorbeigehende, gutaussehende junge Frau – erst 1965 offenbarten Komponist und Texter des Liedes Helôisa Pinheiro, der Muse des Liedes, kurz vor deren Hochzeit, dass sie die Inspiration für das inzwischen schon berühmte Lied gewesen war. Heute handelt es sich beim „Girl von Ipanema“ um eines der meistinterpretierten Stücke des 20. Jahrhunderts. Kaum zu glauben, welche fantastischen Klangfarben und wiegenden Rhythmen Kunkel mit ihrem „Girl from Ipanema“ in den Mariendom zauberte.
Michel Legrand – oscarprämierte Melodien im „Summer of ‘42“
Internationale Bekanntheit erlangten auch die Lieder des am 26. Januar 2019 verstorbenen französischen Komponisten Michel Legrand – nach „A Place in Paris“ erklangen im Konzert auch „Sea and Sky“ und „The Summer knows“. Letzteres ist das melancholische, oscarprämierte Leitthema des Films „Summer of ‘42“ (1971). Orgeljazzerin Kunkel gelang es dabei, die Rudigierorgel in ein Orchester zu verwandeln und cineastische Momente vor Augen zu führen. Sie hatte bereits im ORGEL.SOMMER-Interview verraten, dass sie mit Legrand eine ganz besondere Geschichte verbindet – darum ist auch bereits ein Gedenkkonzert mit Legrand-Melodien am ersten Todestag des Künstlers in Planung.
Charles Trenet – im Zug unterwegs zwischen „Ménilmontant“ und „La Mer“
Kunkel wagte sich an der Rudigierorgel auch an einen anderen berühmten Franzosen – nämlich Charles Trenet. Sein Lied „Ménilmontant“ entstand 1938 und nimmt Bezug auf das 20. Pariser Arrondissement. Die vom amerikanischen Swing – insbesondere dem „Blue Flower“-Stil – beeinflusste Komposition schwelgt in Erinnerungen an eine vergangene Zeit des Viertels. Inspiriert ist „Ménilmontant“ vermutlich von der Geschichte Maurice Chevaliers, der als Sänger in einem Café des Viertels sein Debüt feierte.
Ebenfalls aus der Feder des Chansonniers stammt das 1943 während einer Zugfahrt nach Perpignan entstandene und 1846 erstmals eingespielte „La Mer“, das heute – auch durch zahlreiche Interpretationen anderer Künstlerinnen und Künstler, ebenso in der englischen Fassung als „Beyond the Sea“ – zu einem der bekanntesten französischen Chansons zählt. Das Tongedicht im Stil von Claude Debussys gleichnamiger sinfonischer Dichtung „La Mer“, auf die Trenets Titel Bezug nimmt, meditiert über die verschiedenen Stimmungen des Meers – in den Tiefen des Ozeans entdeckt die Erzählstimme Engel, Schafe und eine azurblaue Schäferin. Und all diese Bilder schwebten bei Kunkels Interpretation auch durch den abendlichen Linzer Mariendom.
Django Reinhardt – umgeben von einer „Douce Ambiance“ des Gypsy Swingers
Aus der Feder des französischen Gitarristen, Komponisten und Bandleader Jean „Django“ Reinhardt, dem Begründer des europäischen Jazz, stammte schließlich „Douce Ambiance“, mit dem Kunkel ihre SOUNDS OF SUMMER beschloss. Reinhardt hatte das Stück im Februar 1943 und im November 1947 aufgenommen. Im Jahr der ersten Aufnahme hatte der Künstler versucht, in die Schweiz zu gelangen, wurde aber an der Grenze zurückgewiesen. Reinhardts Berühmtheit als Gypsy Swinger und die Beliebtheit seiner Musik bewahrten ihn – zurück in Paris – schließlich jedoch davor, wie viele seiner Verwandten verfolgt und in einem Konzentrationslager ermordet zu werden. Kunkel zog bei dieser Verneigung vor Django Reinhardt alle Register ihrer Orgelbearbeitungskunst und tauchte den Mariendom in mächtige Gypsy Swing-Klänge.
Antônio Carlos Jobim, Henry Mancini und Alec Wilder – ein Medley am Meer und mehr
Komplettiert wurde der Abend durch ein Medley, das Alec Wilders romantisches „Moon and Sand“ von 1941 mit Antônio Carlos Jobims instrumentalem Bossa Nova „Wave“ von 1967 sowie Henry Mancinis „Slow Hot Wind“ („Lujon“) von 1961 miteinander verband.
Johann Sebastian Bach (1685–1750): Badinerie, BWV 1067 (Bearbeitung: Lilo Kunkel) | Rudigierorgel: Lilo Lunkel
Und natürlich ließ der begeisterte Applaus der zahlreich erschienenen Orgel-, Jazz- und Crossover-Fans die Würzburger Künstlerin, die an der Rudigierorgel bestens von ihrem Mann Bert Stenger an den Registern unterstützt wurde, nicht ohne eine Zugabe gehen ... Kunkel begeisterte dabei mit einer eigenen jazzigen Interpretation von Johann Sebastian Bachs Badinerie, BWV 1067.
Lilo Kunkel brachte nicht nur die Pfeifen der Rudigierorgel zum Swingen, sondern man konnte auch viele Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher entdecken, die mit glücklichem Lächeln mitgroovten und ihre Beine kaum still halten konnten ... und ein Resümee konnte man nach diesem außergewöhnlichen Orgelkonzert unbedingt ziehen: Chanson, Swing und Jazz auf der Rudigierorgel im Mariendom Linz – eine fantastische Kombination, die unbedingt ihre Fortsetzung finden sollte ...
Anmerkungen:
[1] Williams, Richard (2010): Bobby Hebb obituary. In: The Guardian, 5. August 2010. URL: https://www.theguardian.com/music/2010/aug/05/bobby-hebb-obituary [Stand: 08/2019]
[2] Barron, Kenny / Regen, Jon (2016): Interview, 19. September 2016. URL: https://www.keyboardmag.com/artists/interview-kenny-barron [Stand: 08/2019]
[3] Ebd.
Stefanie Petelin
ii-graphics – stock.adobe.com, Dommusikverein Linz/Stefanie Petelin
4. September 2019